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Germanwings-Unglück
"Völlige Passivität der beiden Piloten"

Acht Minuten dauerte der Sinkflug der Germanwings-Maschine, bevor diese am Berg zerschellte. Das sei eine sehr lange Zeit, sagte der Luftfahrtexperte Elmar Giemulla im Deutschlandfunk. Deshalb sei es rätselhaft, warum die beiden Piloten weder einen Notruf absetzten noch versuchten, das Flugzeug aus den Alpen zu lenken.

Elmar Giemulla im Gespräch mit Martin Zagatta | 24.03.2015
    Ein Helikopter fliegt in der Region, in der die Germanwings-Maschine abstürzte.
    Helikopter der französischen Luftstreitkräfte nahe der Unglücksstelle des Germanwings Airbus 320. (AFP / Anne-Christine Poujoulat)
    Das Vorgehen lasse darauf schließen, dass die Piloten nicht mehr Herr über ihr eigenes Verhalten gewesen seien. Giemulla betonte, es sei nicht von einem völligen technischen Versagen der Maschine auszugehen. Immerhin sei das Flugzeug nicht abgestürzt, sondern im Sinkflug gewesen, die Triebwerke hätten also noch gearbeitet.
    Zentral sei deshalb die "völlige Passivität der beiden Piloten." Derzeit könne man nur spekulieren, was den Sinkflug ausgelöst habe. "Und man kann sicherlich einen Sinkflug aufhalten oder versuchen zu drehen, aus den Alpen rauszukommen, und das ist nicht mal besonders versucht worden", sagte Giemulla. Über den Ablauf des Unglücks könne sicherlich der Stimmenrekorder aus dem Cockpit aufklären.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Sie haben es gehört: Über allem schwebt immer noch die Frage, wie und warum es zu dem Absturz der Germanwings-Maschine kommen konnte. Darüber wollen wir jetzt mit dem Luftfahrtexperten Professor Elmar Giemulla sprechen von der Technischen Universität in Berlin. Guten Abend, Herr Giemulla!
    Elmar Giemulla: Guten Abend!
    Zagatta: Herr Giemulla, Germanwings rätselt selbst noch. Aber es soll einen sehr, sehr langen Sinkflug gegeben haben vor dem Absturz und offenbar keinen ausdrücklichen Notruf. Können Sie sich darauf irgendwie einen Reim machen?
    Giemulla: Wir sind ja im Moment in der Phase, wo spekuliert wird, und die Fakten, die es gibt, die sind tatsächlich auch rätselhaft und bieten praktisch Spekulationen an, an denen ich mich natürlich nur ungern beteiligen würde. Aber es ist schon sehr erstaunlich, dass eine Maschine in einen langen Sinkflug geht mit einer hohen Sinkrate, die ungefähr drei bis viermal so intensiv ist wie ein normaler Sinkflug, wenn es ums Landen geht, ums kontrollierte Landen. Das Ganze hat etwa acht Minuten gedauert. Man muss sich in die Situation der Passagiere hineinversetzen und natürlich auch der Crew, die das natürlich mitbekommen hat, die Passagiere, die acht Minuten lang die Berge näherkommen sahen mit einer hohen Sinkrate, das heißt dementsprechenden Magengefühl auch - der Magen geht natürlich nach oben, das merkt man schon -, ohne dass die Crew reagiert hat, und das ist das Phänomen, um das es hier geht. Woran immer der Sinkflug gelegen haben mag, technisches Versagen oder was man immer sich vorstellen mag, acht Minuten sind eine sehr, sehr lange Zeit, in der man reagieren kann und natürlich auch muss als Piloten, und das ist hier nicht geschehen. Die Maschine ist denselben Weg weitergeflogen, ohne nach rechts oder links einen Ausbruchversuch von der Flugroute zu machen, ohne dass ein Notruf abgesetzt worden ist, und das lässt darauf schließen, dass die Piloten nicht mehr Herr der Lage gewesen sind, wahrscheinlich nicht mehr Herr über ihre eigenen Entscheidungsmöglichkeiten.
    "Ein von außen gesehen kontrollierter Flug"
    Zagatta: Was muss vorausgehen? Das wäre dann fast schon ein direkter Absturz. Wie muss man sich das dann vorstellen, ein solch langer Sinkflug?
    Giemulla: Ein direkter Absturz wäre noch erklärbar, jedenfalls was die Pilotentätigkeit anbelangt. Wenn es ein plötzliches Versagen ist, von welchem System auch immer, ich sage mal die Triebwerke, wenn die plötzlich versagen und es ist gar nichts mehr da, dann geht es natürlich ganz steil runter. Aber das hier war offensichtlich ein Sinkflug, der zwar sehr steil war, aber es war noch Schub vorhanden. Das heißt, die Triebwerke haben noch gearbeitet, haben die Maschine noch nach vorne gedrückt, wie das ja auch sein muss beim Fliegen. Hier war es eigentlich noch ein von außen gesehen kontrollierter Flug, nur dass der hier nun absolut nicht in diese Flugphase hineinpasste, und so gesehen ist von einem völligen technischen Versagen der Maschine nicht auszugehen. Man kann spekulieren, wer den Sinkflug eingeleitet hat, ob das die Piloten selber waren, oder ob es ein Maschinenfehler, ein Computerfehler gewesen ist. Der Hauptpunkt, an dem wir hier zurzeit natürlich herumrätseln - sobald wir mehr Informationen von den Voice Recordern, von den Datenrekordern haben, wird das hoffentlich erklärt werden -, der Hauptpunkt, um den es im Moment geht, ist die Untätigkeit, die völlige Passivität der beiden Piloten.
    Zagatta: So ein kontrollierter Sinkflug, von dem Sie sprechen, wenn sich das über acht Minuten hinzieht, rein technisch gefragt: Liegt es da nahe, dass die Piloten vielleicht ohnmächtig geworden sind und das eine Erklärung wäre, oder würde so ein Sinkflug für so etwas gar nicht ausreichen?
    Giemulla: Dafür reicht der Sinkflug nicht aus. Selbst wenn es um noch höhere Sinkraten geht, wird man nicht gleich ohnmächtig. Davon abgesehen: Es stellt sich ja die Frage, wodurch dieser Sinkflug überhaupt ausgelöst worden ist, ob die Maschine, die Computer plötzlich Befehle gegeben haben, die hier nicht rein passen. Wenn dann plötzlich ein solches Geschehnis Piloten überrascht, dann werden sie nicht gleich ohnmächtig, sondern dann haben sie schon Zeit, darüber nachzudenken, was hier passiert. In der Situation, in der die Piloten sich hier befunden haben, das war eine relativ komfortable Situation, denn es gab ganz andere Unfälle, wo die Piloten wirklich in einer Paniksituation nicht mehr wussten, was sie tun sollen, und auch gar keine Möglichkeiten mehr hatten von der Zeit her zu reagieren. Diese Möglichkeiten hatten hier die Piloten. Acht Minuten ist eine sehr lange Zeit. Da kann man sicherlich einen Sinkflug aufhalten, oder, wenn es nicht anders geht, eine Kurve drehen und zurück, also nicht noch in die Alpen hineinfliegen, was ja ein Todesurteil ist, sondern versuchen zu drehen, aus den Alpen rauszukommen und dann irgendwo den Versuch einer Notlandung hinzukriegen. Das ist nicht mal versucht worden und das ist das, was hier besonders verdächtig ist.
    "Nicht mehr Herr über ihr eigenes Verhalten"
    Zagatta: Stehen Sie da vor einem völligen Rätsel, oder gibt es irgendeine Erklärungsmöglichkeit?
    Giemulla: Zurzeit steht man vor einem Rätsel. Es gibt keine Erklärungsmöglichkeiten, es gibt Spekulationen und die knüpfen natürlich daran an, dass die Piloten hier offensichtlich nicht mehr Herr nicht nur der Lage waren, sondern nicht mehr Herr über ihr eigenes Verhalten waren. Das wird man hoffentlich herausfinden, woran das lag. Da mag man sich verschiedene Ursachen zusammenspekulieren. Das kann tatsächlich Ohnmacht sein, warum auch immer. Es kann der berühmte Selbstmörder sein, der seinen Kollegen erst umbringt, um dann in den Berg zu steuern. Es kann auch theoretisch natürlich sein, dass sie gezwungen worden sind von jemandem, von Verbrechern oder Terroristen, dass sie ausgeschaltet waren in ihrer Willensentscheidung. Wodurch auch immer, wird sich hoffentlich bald herausstellen, aber das scheint mir der Schlüssel für die Erklärung zu sein.
    Zagatta: Wie schnell wird man da etwas erfahren? Aus Frankreich wird ja gerade gemeldet, die französischen Behörden haben das vor wenigen Minuten gemeldet, ein Flugschreiber sei jetzt gefunden worden. Wie schnell dient das zur Aufklärung?
    Giemulla: Das hilft der Aufklärung. Allerdings ist das, ich sage mal, der Flugschreiber, der wahrscheinlich hier weniger zur Aufklärung beiträgt als der andere, der noch nicht gefunden worden ist. Gefunden worden ist der Datenrekorder. Das ist schon wichtig, weil man dann natürlich sieht, welche Eingaben gemacht worden sind, ob vielleicht Eingaben, Befehle, die die Piloten gegeben haben, gar nicht umgesetzt worden sind von der Maschine. Das kann man daraus entnehmen und natürlich dann Schlussfolgerungen herleiten. Aber ganz wichtig ist natürlich, dass der Cockpit Voice Recorder, der Stimmenrekorder gefunden wird, der ja die letzten 20 Minuten vor einem Crash aufzeichnet, und davon darf man ausgehen, dass die letzten 20 Minuten vor dem Crash nicht schweigend von den Piloten verbracht worden sind. Hier wird es Unterhaltungen gegeben haben, natürlich über das Thema, um das es da ging, und das wird dann sicherlich zur Aufklärung beitragen.
    "Die Maschinen werden minutiös gewartet"
    Zagatta: Herr Giemulla, noch ganz kurz. Es hat ja in letzter Zeit viele Streiks bei Germanwings gegeben. Da haben Piloten auch geklagt, durch Arbeitsbedingungen fühlten sie sich teilweise überfordert. Aus Ihrer Sicht gilt oder galt Germanwings irgendwie als unsichere Fluglinie, oder kann man das fast ausschließen?
    Giemulla: Das kann man ganz weit von sich weisen. Germanwings ist eine Tochter der Lufthansa. Die Piloten sind professionell ausgebildet. Die Maschinen werden minutiös gewartet. Das ist Tradition bei der Lufthansa und den Tochtergesellschaften. Diese Wartungsarbeiten und die Ergebnisse werden überwacht vom Luftfahrtbundesamt. Die Leute verstehen ihren Job, sie machen ihren Job. Die deutsche Luftfahrt insgesamt hat ja glücklicherweise so gut wie keine Unfälle zu beklagen. Das hier ist eine Katastrophe, aber das liegt nicht an Dingen, die an Schlampigkeit, an Nachlässigkeit, an schlechten Bedingungen liegen. Ich glaube, das können wir von uns weisen.
    Zagatta: Professor Elmar Giemulla von der Technischen Universität Berlin. Herr Giemulla, ich bedanke mich ganz herzlich für diese Informationen und Einschätzungen.
    Giemulla: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.