WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Wirtschaft
  3. Bilanz
  4. Stromio: Wenn der Stromanbieter seine Kunden für dumm verkauft

Meinung Stromio

Wenn der Stromanbieter seine Kunden für dumm verkauft

Stromanbieter scheuen keine Mühe, Kunden über den Tisch zu ziehen Stromanbieter scheuen keine Mühe, Kunden über den Tisch zu ziehen
Stromanbieter scheuen keine Mühe, Kunden über den Tisch zu ziehen
Quelle: iStock
Digitalisierte Portale scheuen keine Mühe, Kunden über den Tisch zu ziehen. Hammerharte Kundenakquise, intransparente Verträge, überlange Kündigungsfristen und aggressive Lockangebote nerven immer mehr.

Ich bin eigentlich konservativ und zähle mich schon gar nicht zu der Kategorie Verbraucherschützer. Ich liebe die Wirtschaft und bewundere deutsche Unternehmen. Aber eine Sache missfällt mir seit Jahren: die Marktstrategie, Kunden für dumm zu verkaufen.

Entschuldigen Sie diesen Ausdruck, aber ich glaube, dass ich vielen aus der Seele spreche, wenn ich sage: Telekommunikationsunternehmen, Strom- und Gasanbieter und Vergleichsportale scheuen keine Mühe, Kunden über den Tisch zu ziehen. Sie rufen ungefragt an, und wenn sie dich einmal in ihren Fängen haben, lassen sie nicht mehr los.

Sie verstecken Kündigungsmöglichkeiten und setzen auf Intransparenz. Sie locken mit Einstiegsboni und erhöhen nach einem Jahr drastisch die Preise.

Beispiel Stromio, mein Stromanbieter, der alles online abwickelt. „Wir stehen für verlässliche Stromversorgung zu fairen Preisen“, steht auf der Website. Auf einem Informationsportal für Energieanbieter kann man lesen, wie das Unternehmen von Verbraucherorganisationen wirklich beurteilt wird.

Man muss sich einloggen, um Nachrichten, Vertragsänderungen und Dokumente zu empfangen.

Preissteigerung um 44 Prozent

Der bis dahin für mich günstige Anbieter teilte mir im Mai mit, dass er für meinen Tarif „Easy12“ die Preise erhöhen müsse. Nicht etwa in einer E-Mail, sondern mit den Worten „Für Sie liegt ein Dokument bereit“.

Im Mai erwartete ich keine Dokumente, also habe ich auch nicht nachgesehen. Ein Fehler, denn so verpasste ich die Kündigungsfrist: Erst als plötzlich im Juli von meinem Konto 143 Euro statt 59 Euro Abschlag eingezogen wurden, sah ich mir dieses Dokument an.

Der Arbeitspreis solle von 25 auf 30,4 Cent steigen, der Grundpreis von 170 auf 270 Euro. Ich sah mir die Jahresabrechnung an: Bei einem Jahresverbrauch von 3220 KWh betrug die Rechnung 862,02 Euro. Darin enthalten war ein Bonus von 127,83 Euro. Ohne diesen Bonus also 989,85 Euro.

Nun wollte ich wissen, wie Stromio auf diese neue Abschlagssumme von 143 Euro gekommen ist.

Anzeige

Zwölf mal 143 Euro sind 1716 Euro. Dieser Betrag ist um 467,12 Euro höher als ein Jahresbetrag mit den neuen Preisen: 30,4 Cent mal 3220 KW sind 978,88 Euro plus 270 Euro neuer Grundpreis sind 1248,88 Euro.

Abgesehen davon, dass mir hier eine unverschämte Preissteigerung von über 44 Prozent (!) oder ohne Bonus von 26 Prozent untergeschoben wurde, – die Antwort im Callcenter verblüffte mich. „Es handelt sich um eine Prognose Ihres Verbrauchs. Hat unser System errechnet.“

Stromio hat konkret eine Erhöhung meines Stromverbrauchs von 3220 KWh auf 4757 KWh prognostiziert – weiß der Teufel wie.

Liquidität dank überhöhter Prognosen

Doch dahinter steckt System. So beschafft sich Stromio Liquidität. Zwar bekommen die Stromverbraucher den überzahlten Beitrag mit der nächsten Abrechnung zurück. Aber bis dahin kann Stromio mit dem Geld arbeiten. Bei einer Insolvenz wäre das Geld weg.

Leider kann ich die Kundenzahl nicht im Internet finden, aber wenn der zuletzt ausgewiesene Umsatz des verschachtelten Unternehmens 2014 bei rund 480 Millionen Euro lag und der durchschnittliche Verbrauch eines Haushalts bei etwa 3000 kWh liegt, dann wären das etwa 160.000 Kunden.

Wenn alle Kunden nach der Preissteigerung die gleiche „Prognose“ wie ich erhielten, dann wären das übers Jahr gerechnet 160.000 mal 467,12 = 74.739.200 Millionen Euro. Jeden Monat also etwa 6,2 Millionen Euro.

Als ich das im Stromio-Callcenter monierte, hieß es: Kein Problem, wir senken den Abschlag auf 83 Euro. Und das ist ein Betrag, der meinem letztjährigen Verbrauch nach Preiserhöhung in etwa entspricht.

Anzeige

Ich wechsle jetzt zum Stromanbieter Lidl, der in den Vergleichen recht gut abschneidet und mir den Kündigungskram abnimmt. Ich lasse mich doch nicht verarschen.

Drei Gründe, warum es sich lohnt, den Stromanbieter zu wechseln

Der Strompreis steigt immer weiter. WELT-Wirtschaftsredakteur Nando Sommerfeldt wechselt jedes Jahr den Stromanbieter - und erklärt, warum das alle tun sollten.

Quelle: WELT/ Nando Sommerfeldt und Dominic Basselli

Der Autor war früher Chefredakteur von „Capital und ist heute Publizist und BILANZ-Kolumnist. Sie können ihm auf Twitter folgen: @brunomann.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema